Essen und unser Gehirn – eine komplexe Beziehung
Quellen: MDR Von : MDR WISSEN/JES
16. Juni 2025, 10:39 Uhr
Unser Essverhalten wird von komplexen Prozessen im Gehirn beeinflusst. Auch was und wie wir essen, formt unser Gehirn. Drei neue Studien zeigen die komplexe Beziehung zwischen Gehirn und Nahrungsaufnahme auf.
Das Gehirn ist die Schaltzentrale unseres Essverhaltens. Um es zu steuern, integriert es viele Informationen wie körperliche Signale, Erfahrungen, Umweltfaktoren oder auch emotionale Zustände. Hunger spielt sich also nicht nur in unserem Bauch ab. Das Gehirn hat hier seine neuronalen Finger im Spiel.
Mahlzeiten hinterlassen neuronale Spuren
Forschende der University of Southern California haben nun in einer Studie mit Laborratten eine bestimmte Gruppe von Gehirnzellen entdeckt, die Erinnerungen an Mahlzeiten speichern und dabei kodieren, was und wann etwas gegessen wurde.
Während des Essens werden Neuronen im ventralen Hippocampus aktiv. Dieser Gehirnbereich ist vor allem an der Bildung von Gedächtnisinhalten und Lernprozessen beteiligt. Dabei bilden sich physiologische Spuren, sogenannte Engramme, im Gehirn. Die speziellen Gedächtnisspuren, die von den Forschenden identifiziert und "Mahlzeiten-Engramme" genannt wurden, speichern die Informationen über die Erfahrung des Nahrungskonsums.
Außerdem kommunizieren die Neuronen für Essenserinnerung mit dem lateralen Hypothalamus. Diese Gehirnregion ist bekannt dafür, dass sie Hunger und Essverhalten steuert.
Das Gedächtnis beeinflusst unser Essverhalten
Die Forschenden stellten in ihren Experimenten zum einen fest, dass die Zerstörung der speziellen Neuronen dazu führte, dass die Ratten sich nicht mehr an die Lage ihrer Futterstellen erinnern konnten. Zum anderen führte die Unterbrechung der Verbindung zwischen Hippocampus und Hypothalamus dazu, dass die Ratten zu viel fraßen.
Diese Erkenntnisse könnten laut der Forschenden zum Beispiel erklären, warum Menschen mit Gedächtnisstörungen, wie zum Beispiel Demenz, mehrere Mahlzeiten in schneller Folge zu sich nehmen.
Zudem sehen die Forschenden in ihren Ergebnissen eine Chance, neue klinische Ansätze für die Behandlung von Fettleibigkeit und für das Gewichtsmanagement zu entwickeln. Denn bisher würde vor allem mit einer Nahrungsumstellung und Bewegung gearbeitet. Doch eventuell wäre es auch wichtig, die Gedächtnisbildung in Bezug auf Mahlzeiten zu verbessern.
Handy-Scrollen beim Essen schafft unvollständige Essenserinnerungen
Die Gedächtnisbildung kann auch von außen beeinflusst werden. Die Forschenden glauben, dass abgelenktes Essen, wie zum Beispiel das gedankenlose Naschen beim Fernsehen oder Scrollen auf dem Handy, die Erinnerungen an Mahlzeiten beeinträchtigt und zu übermäßigem Konsum beitragen kann.
Wenn die Aufmerksamkeit einer Person auf etwas anderes gerichtet ist, könnten laut Studienautorin Lea Decarie-Spain entscheidende Kodierungsmomente beeinträchtigt sein und Essens-Erfahrungen nicht richtig katalogisiert werden. Das führt zu schwachen oder unvollständigen Essensengrammen im Gehirn. Und das kann wiederum dazu führen, dass wir mehr essen, als wir sollten.
Gerüche können Mäuse satt machen
Hungergefühl und Appetit sind komplexe Sinneserfahrungen, die durch viele Komponenten beeinflusst werden. Das Gleiche gilt natürlich auch für das Sättigungsgefühl.
Forschende des Max-Planck-Instituts für Stoffwechselforschung haben anhand von Hirnscans bei Mäusen entdeckt, dass es eine direkte Verbindung von der Nase zu einer Gruppe von Nervenzellen gibt, die durch den Geruch von Nahrung aktiviert werden und ein Sättigungsgefühl auslösen. Sie befinden sich im medialen Septum des Gehirns, einem Bindegewebe zwischen verschiedenen Hirnregionen.
Weil die Nervenzellen direkt mit dem Riechkolben verbunden sind, läuft dieser Mechanismus innerhalb weniger Sekunden ab. Begannen die Mäuse anschließend zu fressen, wurden die Nervenzellen gehemmt. Mäuse, deren Nervenzellen kurz vor dem Fressen aktiviert waren, fraßen insgesamt weniger. Bei fettleibigen Mäusen wurden dieselben Nervenzellen nicht aktiviert, wenn sie Futter riechen konnten. Diese Tiere fühlten sich nicht satter und fraßen nicht weniger.
Gleiche Nervenzellen-Gruppe beim Menschen
Das menschliche Gehirn enthält dieselbe Gruppe von Nervenzellen. Ob diese allerdings auch auf Lebensmittelgerüche reagieren, ist bisher nicht bekannt.
Studien anderer Forschungsgruppen haben gezeigt, dass das Riechen bestimmter Gerüche vor Mahlzeiten den Appetit von Menschen verringern kann. Das würde vielleicht auch erklären, warum manche Menschen nach dem Kochen eines leckeren Abendessens überhaupt keinen Appetit mehr haben, wenn sie permanent Essensdüften ausgesetzt waren. Andere Studien wiederum haben gezeigt, dass übergewichtige Personen in derselben Situation deutlich mehr essen.
Ähnlich wie die Forschenden der University of Southern California weist auch die Max-Planck-Forschungsgruppe darauf hin, dass der Geruchssinn bei der Steuerung des Essverhaltens eine wichtige Rolle spielen kann und deshalb im Kampf gegen Essstörungen und Adipositas berücksichtigt werden sollte.
Nahrung als Belohnung
Nahrung ist nicht nur ein notwendiges Mittel, um Energie zur Verfügung zu stellen. Sie ist weit mehr als das. Sie kann eine sinnliche Erfahrung sein und in unserem Gehirn wie eine Belohnung funktionieren. Und diese Belohnungen mag das Gehirn sehr gern – es lechzt förmlich danach. Grund genug, dass das Gehirn alles dafür tut, um möglichst einfach an die Belohnungen zu kommen.
Forschende der Stanford University haben kürzlich herausgefunden, dass das Gehirn eine neuronale Karte anlegt, in der markiert ist, wo genau diese Belohnungen auf uns warten. Haben Sie also Orte, an denen es Ihren Lieblingssnack gibt, hat das Gehirn nicht nur eine räumliche Umgebungskarte parat, sondern auch eine zusätzliche Belohnungs-Standort-Karte.
Flexible Belohnungs-Standort-Karte im Gehirn
Während die räumliche Umgebungskarte relativ konstant ist, kann sich die Belohnungskarte rasant updaten, falls sich der Standort der Belohnung verändert. Die Forschenden konnten das anhand eines Mausexperiments in Echtzeit feststellen.
Während die Tiere in einem Laufrad und in einer virtuellen Umgebung Wege zurücklegen und Zuckerwasser-Belohnungen finden mussten, beobachteten die Forschenden mittels Zwei-Photonen-Mikroskopie die neuronale Aktivität im Hippocampus. Hier konnten sie das Entstehen der neuronalen Umgebungskarte beobachten. Aber sie sahen auch eine separate Population von Neuronen, die sich fließend ein- und ausschalteten, sobald der Ort der Zuckerwasser-Belohnung verlegt wurde.
Mögliche Komponente bei Demenz
Die Forschenden stellten außerdem fest, dass beide "Karten" miteinander interagieren. Diese Interaktion könnte eine Rolle bei Menschen mit Demenz spielen, vermuten die Forschenden. Wenn die Erkrankten sich beispielsweise nicht daran erinnern, ob sie ihren Kaffee am Morgen in der Küche beim Frühstück oder auf der Terrasse mit der Familie getrunken haben, könnte es daran liegen, dass die Kommunikation zwischen "Umgebungskarte" und "Belohnungskarte" gestört ist.
Die Forschenden aller drei Studien schlagen vor, die komplexe Beziehung zwischen unserem Gehirn und unserem Essverhalten weiter zu untersuchen, denn hier schlummern noch viele Erkenntnisse, die für die Erforschung von Krankheiten wie Demenz, Adipositas oder Suchterkrankungen hilfreich sein könnten.